Matthias Meyer-Schwarzenberger

Dr. rer. publ. (HSG)

Dissertation: Grammatik und Sozialkapital

Je stärker in einer Sprache das sogenannte „Subjekt“ als Kernbaustein der Satzstruktur hervorgehoben wird, desto stärker tendieren die Gesellschaften, in denen diese Sprache mehrheitlich gesprochen wird, zum Individualismus. Das ist die erste These meiner Dissertation, für die ich 2015 „mit höchster Auszeichnung“ von der Universität St. Gallen (HSG) promoviert wurde.

In der Grafik (Abb. 4.3, S. 118) sind die Variablen „Individualism“ (Hofstede, 1980) und „Self-Expression Values“ (Inglehart & Welzel, 2005) über der von mir konstruierten Variable SUPR5² abgetragen. Die Abkürzung SUPR steht für Subjekt-Prädikation: Meine Index-Variable misst anhand von fünf bis zehn strukturellen Sprachmerkmalen, wie stark eine Sprache das Satzsubjekt als morphosyntaktisch markierte topikalische Agens-Kategorie hervorhebt. Die gezeigten Korrelationen sind robust gegen jegliche Kontrollvariablen.

Kulturelle Unterschiede sind viel älter als bisher angenommen

Gleich zwei bahnbrechende Erkenntnisse lassen sich aus dieser Beobachtung ableiten. Zum einen wird klar, dass sich die Sprache nicht losgekoppelt von der sozialen und kulturellen Erfahrungswelt des Menschen entwickelt. Die Strukturen verschiedener Sprachen entsprechen den Unterschieden zwischen den dazugehörigen Kulturen. Zweitens wird deutlich, dass die Unterschiede, die wir heute zwischen verschiedenen Kulturen beobachten, viel älter sind als bisher angenommen. Insbesondere können sie kein Resultat der modernen politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Entwicklung sein, wie von Soziologen oft angenommen wird. In den Strukturen der Sprache lassen sie sich über viele Jahrhunderte, ja Jahrtausende in die Vergangenheit zurückverfolgen.

Bemerkenswert ist, dass diejenigen Länder, in denen nordwesteuropäische Sprachen gesprochen werden, gegenüber dem Rest der Welt im Laufe der vergangenen 500 Jahre sozioökonomisch einen enormen Vorsprung aufgebaut haben. In der Wissenschaft werden dafür viele mögliche Ursachen diskutiert. Meine These stellt einen Bezug zur Philosophie der Neuzeit her: Entscheidend für den globalen Aufstieg des „Westens“ war der Subjektivismus als verinnerlichte Herrschaft der Räson. Der Subjektivismus macht das Individuum zum „Subjekt“ und zähmt den Individualismus, der sich sonst eher negativ auf das gesellschaftliche Zusammenleben auswirken würde. Sprachlich kommt der Subjektivismus im obligatorischen Satzsubjekt zum Ausdruck, das in den betreffenden Sprachen gegen Ende des Mittelalters entstanden ist.

Die Sprache selbst gewinnt Autorität

Hier setzt die zweite, psycholinguistisch motivierte These meiner Doktorarbeit an: An der historischen Entwicklung germanischer und italischer Dialekte bis hin zu den modernen Standardsprachen lässt sich belegen, dass das im 15. Jh. entstandene, um 1700 grammatikalisierte „offene Subjekt“ der nordwesteuropäischen Sprachen linguistisch zur Verankerung von Satzaussagen im umgebenden Diskurs führt. Die Sprache selbst gewinnt dadurch eine abstrakte Autorität, die jeder persönlichen oder amtlichen Autorität überlegen ist.

Das Vorhandensein dieser Autorität in der Sprache hat weitreichende Konsequenzen für unser Zusammenleben: Sprechern einer nordwesteuropäischen Sprache fällt es vergleichsweise leicht, die Autorität eines „Großen Anderen“ zu akzeptieren, weil sie sich daran bereits beim Erwerb ihrer Muttersprache gewöhnt haben – völlig unabhängig davon, ob der Große Andere kognitiv mit dem Staat, Gott, der Vernunft oder einer anderen Kategorie identifiziert wird. Das vertrauensvolle, sozial disziplinierte Verhalten des „westlichen“ Menschen und die modernen Institutionen des Rechtsstaats, der Demokratie und der Marktwirtschaft werden dadurch begünstigt.

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